Notizen zur deutschen Reaktion auf den russischen Imperialismus
„Niederträchtig wie immer benehmen sich die Preußen“, schrieb Friedrich Engels im Februar 1863 an Karl Marx und meinte damit die Stellung des monarchistischen Preußens zum Unabhängigkeitskampf des zwischen Preußen, Österreich-Ungarn und dem zaristischen Russland geteilten Polens. Betrachtet man die deutschen Reaktionen auf die neo-zaristische Politik von Putins Russland, das massiv Truppen an der Grenze zur Ukraine zusammenzieht, und die deutsche Abhängigkeit von russischem Erdgas, muss man heute ein gleiches Urteil fällen.
Dabei gilt es Grundsätzliches zu beachten: Der Staat, der nach dem Untergang der Sowjetunion in Russland entstanden ist, unterscheidet sich grundlegend von den privatkapitalistischen Demokratien. Die Produktivkräfte in Russland sind durch staatskapitalistische Produktionsverhältnisse künstlich gehemmt: Kapital und Konkurrenz sind dem staatlichen Kommando eines Regimes unterworfen, dessen herrschende Klasse sich insbesondere aus den (post-)sowjetischen Sicherheitsapparaten rekrutiert. Zudem ist Russland insbesondere abhängig von den Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft. Das macht die russische Despotie zu einem atomar bewaffneten Mafia-Staat, der wirtschaftlich auf tönernen Füßen steht und dessen Führung deswegen die polit-ökonomische Krise nach innen und nach außen brutal verzögern muss.[1] Teile der bürgerlichen Klasse in Deutschland sind aufgrund ihrer Klassenlage ideologisch auf Linie mit der Putinschen Reaktion oder angesichts ökonomischer Interessen nicht willens, der Bedrohung wirksam zu begegnen, obwohl die staatskapitalistischen Despotien, insbesondere Russland und China, die Existenz des Westens fundamental gefährden.[2] Nachfolgend sei ein Teil der jüngsten Niedertracht der deutschen Politik festgehalten, um dem Eindruck entgegenzuwirken, das, was sich ‚Ampel‘-Koalition nennt, könne in Sachen Außenpolitik als verlässlicher bürgerlicher Partner oder gar partieller Verbündeter der unteren Klassen gelten, die von einem Sieg der Reaktion am meisten zu fürchten haben.
I.
Einen Tag, nachdem Schweden seine militärische Präsenz auf Gotland verstärkte, um einen möglichen Überfall Russlands auf das Baltikum verhindern zu können, sah sich Olaf Scholz noch als Opfer: unter den „wirtschaftlichen Konsequenzen“, die ein Angriff Russlands nach sich zöge, würden „am Ende ja doch alle leiden müssen“ – mithin auch der Aggressor und der ‚ehrliche Makler‘ Deutschland mit seiner „Sonderrolle“ gegenüber Russland. Zwei Tage später, als die reale Kriegsgefahr nicht mehr zu leugnen war und Sigmar Gabriel seinen Genossen Nachhilfe in Sachen Realitätsprinzip geben musste, sprach Scholz dann aus, was jeder weiß: Natürlich würde sich auch das bürgerliche Lager in Deutschland im Falle einer weiteren Aggression Moskaus mehr einfallen lassen müssen als verlogene Mediation, um im eigenen Interesse sicherzustellen, dass Putin sich mit der Ukraine, für die im Westen niemand kämpfen mag, zufrieden gäbe. Schweigen sei keine vernünftige Option mehr, hob Scholz stimmungsvoll an, als er diese Realität öffentlich eingestand. Die Geste war hohl. Als Scholz ergänzte, die russische Seite wisse um die deutsche Entschlossenheit, hatte er schon zwei Lügen ausgesprochen. Wochenlang und mit zunehmender Kriegsgefahr umso entschlossener konnte bei Scholz‘ Parteigenossen von Schweigen gar keine Rede sein. In unzähligen Variationen gaben sie zu Protokoll, dass sie gar nicht daran dächten, den Verhandlungspartner Russland durch Handlungen oder Worte unter Druck zu setzen. Jeder Zweifel daran, Deutschland würde den russischen Aggressionen auch weiterhin weitgehend tatenlos zusehen, wurde stattdessen gekonnt zerstreut. Auch Scholz hatte in der Vergangenheit alles andere als geschwiegen. Noch im Dezember bezeichnete er „Nord Stream 2“ als rein privatwirtschaftliches Projekt. Sein einstiger parteiinterner Gegner Kevin Kühnert sekundierte und forderte im Angesicht des Krieges „Rechtsfrieden“ für die Pipeline, die das Erpressungspotenzial Russlands gegenüber Deutschland zwangsläufig vergrößern muss. Dann brachte er auf den Punkt, wie weit zahlreiche führende Sozialdemokraten zu gehen bereit sind, um das Projekt des anderen ehemaligen Juso-Vorsitzenden Gerhard Schröder, die Bundesrepublik in Abhängigkeit vom russischen Despotismus zu bringen, zu vollenden. Kühnert, der auf Twitter dafür wirbt „in eine antifaschistische Partei einzutreten“, verstieg sich zu der Aussage, die Gefahr eines Krieges und damit weiterer tausender toter Ukrainer sei „herbeigeredet“ und trat damit die Opfer des Putinismus mit Füßen. Mehr muss man von Kevin Kühnert nicht wissen. Von Deutschland muss man wissen: die SPD ist bei der vergangenen Bundestagswahl stärkste politische Kraft geworden. Das konnte man nur als Drohung an die freie Welt verstehen und Olaf Scholz hat dem Vernehmen nach auch nicht lange gebraucht, um Xi Jinping, dem er schon einen Teil des Hamburger Hafens verscherbelt hatte, ausrichten zu lassen, er wolle die Politik Merkels fortführen, im Namen europäischer Souveränität die Abhängigkeit vom chinesischen Despotismus zu vergrößern.
Fest steht: In ihrer jahrelangen Weigerung, auch dem Despotismus russischer Provenienz wirksam zu begegnen, haben Olaf Scholz und Angela Merkel die Ukraine auf dem Silbertablett serviert. Dieses Urteil wird nicht dadurch angefochten, dass Angela Merkel innerhalb der EU zuweilen entgegen Beschwichtigungen anderer Länder durchaus für die Aufrechterhaltung von letztlich viel zu schwachen Sanktionen stand. Ganz richtig bezeichneten jüngst verschiedene Osteuropa- und Sicherheitsexperten in der „Zeit“ den tödlichen Krieg Russlands in der Ostukraine und die Annexion der Krim als „logische Konsequenz“ der deutschen Außenpolitik, der keine russische Mordtat abscheulich genug war, Regime-Vermögen zu beschlagnahmen, die Abhängigkeit von russischem Gas zu reduzieren und Osteuropa wirksam gegen die russische Aggression zu bewaffnen.
Dies im Wissen darum, dass Russland als „Hauptfestung, Reservestellung und Reservearmee […] der europäischen Reaktion“ (Engels) fortwährend antiwestliche Bewegungen fördert oder mit diesen kooperiert (in Deutschland etwa Linkspartei, Querdenker, AfD, antimilitaristische Linke), den gesamten Westen mit Desinformationskampagnen attackiert, politische Morde auch im Ausland begeht, westliche Unternehmen und staatliche Institutionen mit Cyber-Angriffen überzieht und Demokratiebewegungen in aller Welt niederschlägt. Noch 2021 hat die Merkel-Regierung viele Monate lang den Ankauf von Defensiv-Waffen durch die Ukraine aus anderen NATO-Ländern über ein NATO-Beschaffungsprogramm blockiert. Die Lilienthaler Firma „Riol Chemie GmbH“, die auf einer US-amerikanischen Liste für Exportrestriktionen und im Verdacht steht, in die Verbreitung bio-chemischer Kampfstoffe verwickelt zu sein, dürfte von den deutschen Behörden ebenso unbehelligt bleiben wie der Privatjet Jewgeni Pirgoschins, Financier der russischen Söldnergruppe „Wagner“, auf dem Berliner BER.
Zugleich arbeiteten insbesondere die Ostbundesländer und allen voran Wahlsiegerin Manuela Schwesig (SPD), aber auch CDU-Ministerpräsident Kretschmer, der als CDU-Vize das beste Wahlergebnis erzielte, der politischen und wirtschaftlichen Verflechtung und damit Abhängigkeit von Russland zu. Schon die Gas-Pipeline „Nord Stream I“ war ein hoch korruptes Unterfangen des SPD-Ex-Kanzlers Schröder, anderer hochrangiger europäischer Sozialdemokraten und des ehemaligen Stasi-Spions Matthias Warnig.[3] Die Ängste der osteuropäischen ‚Partner‘, mit der russischen Bedrohung allein gelassen zu werden, hat Deutschland durch die neuerliche Pipeline wissend weiter geschürt.
II.
Im Interesse deutscher Wirtschaftsbeziehungen wurden alle Anzeichen des Putinschen Neo-Imperialismus mit dem Verweis auf vermeintliche „Entspannungspolitik“ jahrelang kaschiert. Besonders perfide ist in diesem Zusammenhang der Hinweis auf den nationalsozialistischen Vernichtungsfeldzug in Osteuropa, mit dem die Appeasement-Politik oftmals begründet wird. Auch für Bremen und das Bremer Umland gilt, was für alle deutschen Regionen gezeigt werden könnte: Das Bremer Polizeibataillon 303 zog vor 80 Jahren mordend durch die Ukraine und war am Massaker von Babyn Jar beteiligt. Unter den tausenden Zwangsarbeitern in Bremen ‚und umzu‘ waren zahlreiche Ukrainer. Während nun andere NATO-Staaten aufgrund der russischen Bedrohung Waffen an die Ukraine liefern, zieht die ‚Ampel‘-Koalition‘ kreative ‚Lehren‘ aus der Geschichte und entblödet sich nicht, eine solche Außenpolitik mit dem Wort „wertebasiert“ zu illuminieren. Keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern, ist für Annalena Baerbock eine „historisch begründete“ Moral. Auch abseits mancher gruseliger Projektion der Wiedergutgewordenen auf den deutschen Vernichtungsfeldzug, der nur insofern etwas mit Waffenexporten zu tun hat, als die USA der Sowjetunion und Großbritannien Millionen Tonnen lieferten, damit der nationalsozialistische Angriff abgewehrt werden konnte, braucht es nicht viel, um dieser „historisch“ geborgten Moral ihren Zweck abzuhorchen: Hier soll aus wirtschaftlichen Gründen und aufgrund der außenpolitischen Schwäche Deutschlands, das durch russische Gaslieferungen erpressbar ist, eine wirksame Solidarität mit der Ukraine ausbleiben. Tatsächlich ist man sich auch angesichts von Russland angehäufter Gold- und Devisenreserven im westlichen Lager nicht darin einig, ob die EU-Staaten einen ausgedehnten Wirtschafts- und Handelskrieg mit Russland inklusive eines Lieferstopps russischen Erdgases im Eigeninteresse riskieren sollten. Allen voran die deutschen Bürgerlichen scheuen die Konsequenzen, die es auch militärisch mit sich brächte, den Despoten die Stirn zu bieten.
III.
Hacker verbreiteten vor wenigen Tagen im Auftrag Russlands auf der Seite des ukrainischen Außenministeriums die Botschaft, „Ukrainer … habt Angst und rechnet mit dem Schlimmsten“. Einen Tag später konterte die deutsche Sozialdemokratie: Michael Roth, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages kam nach reiflicher Überlegung zu dem Schluss: Die Lieferung von „Helmen und Schutzwesten“ an die Ukraine sei „denkbar“.
Wie sehr sich die Ukraine verlassen kann auf das niederträchtige „diplomatische Handwerkszeug“ (Kühnert) der Bundesrepublik, die sich einmal mehr als „ehrlicher Makler“ (Otto von Bismarck) zwischen West und Ost gerieren wollte, zeigt auch eine Äußerung Friedrich Merz‘ (CDU). Der Transatlantiker ließ es sich nicht nehmen, einer konsequenten Abwehr der russischen Aggression durch die weitgehende Abkopplung Russlands vom internationalen SWIFT-Zahlungsverkehr im Vorhinein öffentlich den Zahn zu ziehen. Die deutsch-europäische Abhängigkeit vom russischen Erdgas mit der relativen Stärke westlicher Nationalkapitale identifizierend, bezeichnet er eine der schärfsten nicht-militärischen Waffen des Westens als „Atombombe für die Kapitalmärkte“. Das sich solcherart durch amerikanische Bomben bedroht sehende bürgerliche Lager in Deutschland und seine in Teilen pro-despotische bürgerliche Klasse stellt deswegen nach Putins Russland eine der größten Bedrohungen für die vom Putinismus Unterjochten und Bedrohten dar. Man darf ihr nicht den Kampf gegen die Feinde der bürgerlichen Freiheit überlassen – die nach wie vor beste Bedingung für die Herstellung des Vereins freier Menschen.
[1] Vgl. zur ökonomischen Basis des Putinismus und zur Frage, warum die Parteinahme für die staatskapitalistischen Despotien aus der Klassenlage und einem bestimmten Verhältnis zum Staatskapital eines Teils Bourgeoisie folgt, die Texte der politischen Assoziation „plot point“, u. a.: https://plot-point.org/2021/11/24/man-erkennt-den-adler-am-flug-russisches-sprichwort-zur-jungsten-eskalation-des-putinistischen-krieges-gegen-europa/.
[2] In den entwickelten privatkapitalistischen Ländern hat sich eine Klasse herausgebildet, die im Produktionsprozess eine Mittelstellung einnimmt und in ihrem Verhältnis gegenüber unmittelbaren Produzenten und Kapital eine dispositive Funktion erfüllt. Diese Vermittlungsarbeiter organisieren und lenken als Sachwalter Teile des Produktions- und Distributionsprozesses, figurieren als Verfügungsgewalt des Kapitals oder sind Teil des staatlichen „juristische[n] und politische[n] Überbau[s]“ (Marx). Aufgrund der hohen Entwicklung der Produktivkräfte und ausdifferenzierten Arbeitsteilung sitzen sie selbst dem Schein auf, diese Verfügungs- und Steuerungsgewalt innerhalb des kapitalistischen Systems wirklich innezuhaben. Der kapitalistische Verwertungsprozess vollzieht sich aber gesetzmäßig auch ‚hinter ihrem Rücken‘, sie stehen ihm ohnmächtig gegenüber und erleben ihre Arbeit als entfremdet.
Das Bewusstsein dieser Klasse ist deswegen notwendig davon geprägt, Wirklichkeit und Produktionsbedingungen als beliebig und politisch als staatlicherseits formbare Masse zu begreifen. Die traditionelle Lage der die Produktionsmittel besitzenden Klasse als Klasse von zueinander in Konkurrenz stehenden Privatiers begreift dieser Teil der Bourgeoisie als Hindernis auf dem Weg zur letztlich staatsplanerisch vermittelten Reproduktionstotalität, was mit einem bestimmten Näheverhältnis zum Staatskapital und einem ideologischen Furor einhergeht, mit dem die bürgerliche Konkurrenz verdrängt und Pfründe okkupiert werden sollen – was letztlich auf Bürgerkrieg hinausläuft. Die Assoziation „Plot point“ unterscheidet begrifflich alte und neue Bourgeoisie. Vgl.: https://plot-point.org/about/ und zu den Formen der modernen Entfremdung insbesondere: https://plot-point.org/2020/08/03/schwarze-haut-und-kapital/.
[3] Die Liste der offiziellen wie inoffiziellen Verbündeten von Putins Russland im westlichen bürgerlichen Lager umfasst allerdings Politiker vieler politischer Strömungen und lässt sich keinesfalls auf die Sozialdemokratie reduzieren, die sich allerdings traditionell mit einer besonderen Nähe zum russischen Despotismus hervortut.
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